Die Energiewirtschaft wird durch den Krieg in der Ukraine eine andere werden. Kurzfristig beschäftigen Sorgen um die Versorgungssicherheit die Menschen, langfristig muss es eine grundlegende Neubewertung unserer Energieversorgung geben. Was das bedeutet, erklärt Dr. Arne Geiger, Leiter des Thüga-Kompetenzteams Vertrieb/Marketing.

Herr Dr. Geiger, was bedeutet die Eskalation mitten in Europa für die Energiewirtschaft?
Das von der EU vorgelegte Sanktionspaket gegenüber Russland bringt nicht nur drastische Einschränkungen für Finanzwirtschaft und Hochtechnologie mit sich, sondern wird auch die stark verflochtene Zusammenarbeit der Energiewirtschaft mit Russland vor große Herausforderungen stellen. Vor allem der Ausschluss der meisten russischen Banken aus SWIFT bringt große Unsicherheit über die Aufrechterhaltung der laufenden Gaslieferungen mit sich. Wie gravierend die Folgen tatsächlich ausfallen werden, lässt sich derzeit allerdings nicht seriös abschätzen. Klar ist aber: Die Energiewirtschaft wird durch diesen Krieg eine andere werden. Die Aufregungen des Augenblicks werden einer grundlegenden Neubewertung unserer Energieversorgung weichen.

Welche Fragen stellen sich im Rahmen dieser Neubewertung?
Wie schnell können wir unserer Unabhängigkeit stärken, wie stark muss der Staat eingreifen, welche Rahmenbedingungen müssen neu justiert werden?

Gibt es darauf schon erste Antworten?
Ich hoffe, dass wir Anfang April sagen können: Wir sind gut durch den Winter gekommen. Trotzdem ist noch nicht sichergestellt, dass auch der nächste Winter so funktioniert. Dann würde die Abschaltung von Großverbrauchern drohen. Die problematische Speichersituation in diesem Winter, bei der unter anderem die unter Kontrolle von Gazprom stehenden Speicher kaum befüllt waren, hat eine schnelle Reaktion der deutschen Politik ausgelöst: Zur Sicherung der Versorgungssituation soll eine sogenannte Nationale Gasreserve eingeführt werden. Bereits für den kommenden Winter sind demnach Mindestfüllstände zu bestimmten Zeiten vorgeschrieben, wofür die Marktteilnehmer zu sorgen haben. Die Umsetzung dieser Vorgaben dürfte federführend bei den Netzbetreibern liegen, die Kosten der Maßnahmen damit bei den Netzkunden.

Das bedeutet weiter steigende Preise …
Davon müssen wir ausgehen. Preistreibend wirkt bereits jetzt die Furcht vor einer Kappung des Gasflusses durch Russland als Vergeltungsmaßnahme für die Sanktionen des Westens. Auch der CO2-Preis nahm bereits Ende Februar Kurs auf die 100-Euro-Marke. Kurz davor stoppte die Diskussion über die Anpassung der Marktstabilitätsreserve im Europäischen Parlament diese Entwicklung – ein Instrument, das ursprünglich den Preisverfall bei Überangebot stoppen soll.

Und das funktioniert auch umgekehrt?
Genau. Und zwar, indem zur Preisdämpfung Mengen aus der Wachstumsreserve wieder in den Markt abgegeben werden. Durch eine schnelle Reform des europäischen CO2-Handelssystems sollen die Regeln so angepasst werden, dass dieser Schritt schon in Kürze erfolgen kann.

Viele Gaskunden machen sich Sorgen, dass sie bald im Kalten sitzen müssen. Wie können Versorger ihnen die Angst nehmen?
Es ist absolut nachvollziehbar, dass aktuell viele Kundinnen und Kunden beunruhigt sind über die Sicherheit der Versorgung. Hier müssen die Unternehmen aufklären und kommunizieren: In diesem Winter bleiben die Wohnzimmer warm. Gaswirtschaft, Verbände und Politik beobachten die Entwicklungen genau und sind vorbereitet. Auch wenn es aktuell keine Anzeichen für eine Gasmangellage gibt, existiert ein Notfallplan für den Ernstfall. Als Ultima Ratio kann die Bundesnetzagentur Zwangsmaßnahmen anordnen, zum Beispiel die Leistungsreduzierung beziehungsweise Abschaltung von nicht systemrelevanten Gaskraftwerken oder Industriekunden, um sicherzustellen, dass auch im Notfall Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und alle Privatkunden weiter mit Gas beliefert werden. Die Energiebranche ist sich ihrer Verantwortung für eine sichere Versorgung bewusst und wird die Kundinnen und Kunden nicht im Kalten sitzen lassen.

Wie wirkt sich die derzeitige Lage auf die Strompreise aus?
Das Strommarktdesign führt dazu, dass der Preis durch die momentan extremen Kosten der fossilen Stromerzeugung bestimmt wird. Auf Dauer dürfte es zu Verwerfungen führen, wenn ein immer kleinerer Teil des Erzeugungsparks einen wachsenden Hebel auf den Marktpreis erhält. Frankreich macht deshalb Vorschläge zur Reform des europäischen Strommarktes. Demnach sollen langfristige, fundamentale Preisfaktoren stärker ins Gewicht fallen. Solche gravierenden Eingriffe brauchen Zeit. Die Politik ergreift aber auch kurzfristige Maßnahmen zur Entlastung der Verbraucher: Eingebettet in ein Paket zum Abmildern der stark gestiegenen Energiekosten hat die Regierung deshalb die vorgezogene Abschaffung des EEG zum 1. Juli auf den Weg gebracht. Dieser Schritt soll die Stromkunden entlasten und zumindest den unvermeidlichen Anstieg bremsen.

Ist damit auch die Insolvenzwelle unter den deutschen Energieanbietern beendet?
Nein, das Insolvenzkarussel dreht sich munter weiter. Und die Insolvenzwelle wurde mittlerweile in die Gerichtssäle gespült. Dort wird entschieden, ob gesplittete Grundversorgungstarife, die viele Energieversorger zum Schutz ihrer Bestandskunden eingeführt hatten, zulässig sind. Aber auch die zur Vermeidung der eigenen
Insolvenz erfolgte Kündigung der gesamten Kundschaft von Stromio & Co. wird nun von den leidtragenden Grundversorgern vor Gericht gebracht. Der Staatsanwalt ermittelt.

Welche Learnings ergeben sich bereits jetzt aus der Krise?
Die Bundesregierung kommt in ihrem Vorsorgeplan „Stärkung der Krisenvorsorge zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit“ zu dem Schluss, dass unser Ziel sein muss, die hohe Abhängigkeit von russischen Importen bei fossilen Energieträgern zu überwinden. Als wichtigster Schlüssel für Energiesouveränität wird die Energiewende genannt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien sei eine Frage der nationalen und europäischen Sicherheit und ersetzt den Import von Gas, Öl und Kohle. Auch die Elektrifizierung von Wärme und Verkehr will der Bund beschleunigen. Mein Fazit: Mit dem Ansatz der Energiewende vor Ort liegen die Unternehmen der Thüga-Gruppe genau richtig.