Energiehändler sind es gewöhnt, mit Risiken umzugehen. Preisänderungen im Börsenhandel von Strom, Gas oder CO2-Zertifikaten sind normal, ja gewünscht, um das Angebot der unterschiedlichen Produzenten und die Nachfrage auf Seiten der Unternehmen und Stadtwerke ins Gleichgewicht zu bringen. Aber 2022 tat sich für den Energiehandel zeitweise ein Abgrund auf.

„Zum Problem werden Preisschwankungen dann, wenn sie so dynamisch werden, dass auf breiter Front Insolvenzen drohen“, sagt Johannes Angloher, Geschäftsführer der Thüga-Plusgesellschaft Syneco Trading. „Wir hatten Preise, die um ein Vielfaches gegenüber der gewöhnlichen Entwicklung nach oben ausschlugen. Und Preisbewegungen, die selbst untertägig mehr als hundert Euro auf und ab schwankten. Da kostet der kleinste Fehler richtig Geld.“ Diese Extreme veranschaulicht er auf der Syneco-Plattform „Synection“: Im Jahresüberblick der Preishistorie beginnen die Preiskurven im Februar sanft, aber stetig nach oben zu zittern. „Ein vormals üblicher Durchschnittswert für die Megawattstunde Strom lag bei rund 40 Euro. Zu normalen Zeiten waren Schwankungen von plus minus zehn Prozent nicht ungewöhnlich“, so Angloher. Die erste Klippe in den Wellenbergen zeigte sich Mitte April. Anfang Juli sprangen die Kurven schroff nach oben. Binnen weniger Tage hatte sich der Preis für die Megawattstunde um mehr als 100 Prozent erhöht. Im August folgte dann endgültig die Entfesselung.

Bedrohlicher Ausnahmezustand

Gründe waren der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, Öl- und Gassanktionen und explodierende Pipelines. „Letztlich ist aber doch vergleichsweise wenig Dramatisches passiert. Das hat zu einem guten Teil mit den Entscheidungen zu tun, die die Politik getroffen hat“, blickt Angloher auf diesen Ausnahmezustand zurück. „Bei den Liquiditätsengpässen einiger Produzenten ist die staatliche KfW-Bank eingesprungen und zwei zentrale Player im Markt – Gazprom Germania und Uniper – wurden verstaatlicht. Andernfalls wäre ein Zusammenbruch des Marktes wahrscheinlich gewesen, von dem sich die beteiligten Unternehmen lange nicht erholt hätten“, ist er überzeugt. „So hat der Markt in wesentlichen Teilen trotz großer Einschränkungen noch funktioniert.“

Abwägen auf Basis vieler Kriterien

Um Energie an Börsen einzukaufen, müssen Energiehändler auf der Basis von Daten, Nachrichten und Erfahrung abwägen, was Einfluss auf Markt und Preise nehmen kann: Angaben über Netzlasten, historische und aktuelle Stromverbräuche und „wenn nötig auch die Pegelstände der deutschen Binnenschifffahrt oder die Stände bei den Kühlzuläufen französischer Kernkraftwerke“, erinnert sich Angloher an den letzten Sommer mit extremer Trockenheit. Auf dieser Basis bilden sich die Großhandelspreise, mit denen auch Syneco die Angebote kalkuliert, über die die anfragenden Stadtwerke dann entscheiden. „Früher hatten sie eine Viertelstunde, um auf ein Angebot zu reagieren“, sagt Angloher. Nach diesem Zeitfenster können sich die Bedingungen schon geändert haben. Die Kalkulation mit dem dann aktuellen Preis beginnt von Neuem. Das jedenfalls galt für „normale Zeiten“.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Stadtwerke, die Preise langfristig vertraglich gesichert hatten, waren klar im Vorteil. Von Tag zu Tag kamen jene immer mehr in Bedrängnis, die auf fallende Kurse gesetzt hatten und sich kurzfristig zu hohen Preisen eindecken mussten.

Rasanter Wechsel der Bedingungen

2022 waren die Zahlen auf einem Angebot oft schon veraltet, bevor es beim Kunden ankam. Im schlimmsten Fall gefährdeten die Konditionen auf dem Dokument die Existenz des Anbieters. Angloher: „Bei untertägigen Preisschwankungen von 100 Prozent und mehr bedarf es großer Sorgfalt, um überhaupt Angebote rausgeben zu können.“ Stadtwerke, die Preise langfristig vertraglich gesichert hatten, waren klar im Vorteil. Von Tag zu Tag kamen jene immer mehr in Bedrängnis, die auf fallende Kurse gesetzt hatten und sich kurzfristig zu hohen Preisen eindecken mussten.

Drohende Defizite

Aber auch Unternehmen mit längerfristigen Verträgen sahen große Probleme auf sich zukommen. Angloher: „Was nützt Ihnen der günstigste Vertrag, wenn Ihr Lieferant Gas oder Strom nicht mehr zu den zugesicherten Konditionen beschaffen kann? Ihr Lieferant geht von der Megawattstunde zu 80 Euro aus. Doch bis der Vertrag fällig wird, steht der Preis bei 300 Euro. Wenn Ihr Lieferant bei so einer Entwicklung ausfällt, müssen Sie den Strom woanders teurer einkaufen“. Auch der umgekehrte Fall der Preisentwicklung ist problematisch für Stadtwerke: Der Händler beschafft die Megawattstunde für 300 Euro, aber übers Jahr sinkt der Preis auf 80 Euro. Der Käufer hat Unsummen bezahlt, muss den Strom aber deutlich unter Wert verkaufen. Dann droht ein hohes Defizit.

Lehre aus der Krise

Aus Sicht von Johannes Angloher ist es an der Zeit, als Lehre aus der Krise auch über notwendige Anpassungen des Strommarktdesigns nachzudenken. Bislang sorgt das sogenannte Merit-Order-System dafür, dass die günstigsten Stromproduzenten zuerst zum Zuge kommen, aber die teuersten Kraftwerke, die gerade noch für die Deckung des Bedarfs gebraucht werden, die Preise bestimmen. Im Vergleich zu konventionellen Kraftwerken schneiden die Produzenten von nachhaltiger Energie dabei zur Zeit sehr gut ab. Schließlich müssen sie für Wind, Sonne oder Geothermie-Wärme nichts zahlen, während die Kosten für konventionelle Energieträger durch die Decke gehen. „Das zukünftige Design muss einen weiter wachsenden Anteil an erneuerbarer Energie genauso berücksichtigen wie gesicherte Reserven für Dunkelflauten und Kosten für die Anpassung der Infrastruktur“, meint Angloher.

Bild von Bishnu Sarangi auf Pixabay

Das zukünftige Strommarktdesign muss einen weiter wachsenden Anteil an erneuerbarer Energie genauso berücksichtigen wie gesicherte Reserven für Dunkelflauten und Kosten für die Anpassung der Infrastruktur.

Gestreute Beschaffungsrisiken

Im Wesentlichen beschäftigen sich Energiehändler mit den Risikoarten Preis-, Adress- und Liquiditätsrisiken. Hinzu kommen noch die operationellen Risiken aus Fehlern im operativen Prozess. Alle haben naturgemäß mit den Energiepreisen zu tun: je höher die Preise, desto höher die Risiken. „Grundsätzlich agiert Syneco sehr risikoavers“, sagt Angloher. „Wir halten keine großen Positionen und unsere Kunden streuen die Risiken üblicherweise über Zeiträume von einem bis drei Jahren. Dabei ist das gerade laufende Jahr vertraglich in aller Regel schon unter Dach und Fach.“ Spannend sei das jeweils folgende Jahr. „Ziel von Syneco ist, durch übergreifende Bündelung der Bedarfe, zeitliche Streuung der Beschaffung und optimierte Prozesse die Versorgung sicherzustellen und verlässlichen Mehrwert für die Thüga-Partnerunternehmen zu schaffen. Es ist definitiv nicht unser Ziel, Spekulationsgewinne im Energiemarkt zu erzielen.“

Drohende Liquiditätsprobleme

Um sogenannte Adressrisiken zu minimieren, können die Akteure über die Börse handeln. Zur gegenseitigen Absicherung müssen dort allerdings Sicherheitsleistungen hinterlegt werden. Beispiel: Ein Stromproduzent will sich für den Fall absichern, dass sein Vertragspartner ausfällt, weil der Preis nach Vertragsabschluss deutlich fällt. Der Abnehmer kann den Strom dann nicht zum vereinbarten Preis weitervermarkten und der Produzent wird deutlich weniger erzielen, als eigentlich kalkuliert. Wenn der  Stromproduzent deshalb über die Börse vermarktet, wird die Preisdifferenz bei fallenden Preisen von der Börse ausgeglichen. Damit wird auch das Ausfallrisiko kompensiert. Wenn dagegen der Preis steigt – das war 2022 bis in extreme Höhen der Fall –, muss der Stromproduzent seinerseits Geld an der Börse hinterlegen, um das Risiko für den Vertragspartner auszugleichen. Wenn diese Sicherheitsleistungen mit den Preisen explodieren, geraten die Unternehmen in ein Liquiditätsproblem. Sie haben dann im schlimmsten Fall nicht mehr genug Reserven, um den laufenden Betrieb zu finanzieren. Groteske Folge: Ein Produzent geht Pleite, obwohl Preise und Nachfrage extrem hoch sind.

Beruhigung bei höheren Preisen

„So hoch, wie die Preise 2022 gestiegen sind, werden sie nicht bleiben“, schaut Angloher nach vorn. „Die staatlichen Interventionen haben eine Menge Spekulation aus dem Markt herausgenommen. Auf das Vorkrisenniveau werden sie aber so schnell nicht fallen. Die bestehende Infrastruktur für Gas aus Russland war vergleichsweise kostengünstig. Flüssiges Erdgas ist in Aufbereitung und Transport sehr viel teurer. Weitere Lieferländer müssen erschlossen, die Infrastruktur für Wasserstoff aufgebaut werden.“ Auf absehbare Zeit rechnet Angloher mit einer deutlich abnehmenden Dynamik, ist aber dennoch der Meinung: „Auf ein preislich höheres neues Normal sollten wir uns einstellen.“ Und auf ruhigere Nächte für Energiehändler hoffentlich auch.

TEXT: Volker Joksch