Top-down versus Bottom-up: Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien in Auftrag gegeben – wie zum Beispiel die dena-Leitstudie. Nach dem Top-down-Ansatz betrachten sie Szenarien, mit denen Deutschland die Klimaziele erreichen kann. Nun hat das Fraunhofer-Institut eine erste Bottom-up-Studie zur Dekarbonisierung des Wärmesektors veröffentlicht. Welcher Studienansatz liefert welche Ergebnisse? Gibt es Schnittpunkte und lassen sich daraus allgemeingültige Erkenntnisse ableiten?

Top-down geht vom Allgemeinen und Übergeordneten schrittweise hin zum Konkreten, Untergeordneten. Je weiter es ins Konkrete geht, desto unschärfer werden die Ergebnisse. Bottom-up bezeichnet die umgekehrte Richtung. Hier geht es darum, wenige, gut ausgewählte Sachverhalte detailliert zu untersuchen und zu bewerten. Es sind also zwei verschiedene Denkrichtungen, um komplexe Tatbestände zu beschreiben und darzustellen. Nach dem Top-down-Ansatz ist es zum Beispiel sinnvoll, jedes Gebäude in Deutschland – unabhängig vom Ort und von der verfügbaren Infrastruktur – zu sanieren. Der Bottom-up-Ansatz hingegen zeigt auf, dass es wichtig ist, wo eine Sanierung stattfindet. Gleichzeitig kann der Bottom-up Ansatz wenige Aussagen über den Bedarf an Übertragungsleitungen liefern, da nur einzelne Regionen in Deutschland detailliert untersucht werden können. Beide Studienansätze untersuchen verschiedene Szenarien, indem sie mit unterschiedlichen Prämissen rechnen, zum Beispiel der Sanierungsrate oder der verfügbaren Wasserstoffmenge.

Beispiel für Top-down: Studie „Langfristszenarien“

Eine große Zahl von Top-down-Studien und ganz aktuell die Studie „Langfristszenarien“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz bilden die Grundlage für die Gesetzgebung zum Klimaschutz und für die Einschätzung künftiger Entwicklungen. So lässt sich das Konzept „Efficiency First“ (Vorrang für Energieeffizienz) hervorragend aus Top-down-Studien ableiten. Gebäudedämmung und der Einsatz von Strom-Wärmepumpen sind nach diesem Ansatz überall in Deutschland wichtig und gleichermaßen richtig. Nach dem Bottom-up-Ansatz sind Gebäudedämmung und Strom-Wärmepumpen auch sinnvoll, aber nicht an jedem Ort. Beispiel: Wenn eine grüne Fernwärmeversorgung in naher Zukunft bereitsteht oder im benachbarten Gewerbegebiet eine starke Nachfrage nach H2 entsteht, sollten Gebäudedämmung und Strom-Wärmepumpen in genau diesen Gebieten nicht vorrangig eingesetzt werden. Handwerker und öffentliche Fördermittel sind begrenzt verfügbar und wären bei einem anderen Gebäude volkswirtschaftlich sinnvoller nutzbar.

Methodik: Die Systemgrenze ist Deutschland, oft werden aufgrund von Stromimporten und -exporten auch die EU-Nachbarländer einbezogen. Betrachtet werden alle Erzeugungsformen plus Import/Export sowie alle Verbrauchssektoren, zum Beispiel alle Gebäude einer Altersklasse. Dann wird untersucht, ob Energienachfrage und -verbrauch zum Angebot passen und anschließend geschätzt, welche Mengen das Übertragungs- und Fernleitungsnetz transportieren kann. Für Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) ergibt diese Betrachtungsweise in der Regel belastbare Ergebnisse. Für Verteilnetzbetreiber (VNB) stellen diese sich allerdings stark vereinfacht dar, denn sie basieren oft auf sehr pauschalen Annahmen, die mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind. Daher sind diese Aussagen auch für die VNB der Thüga-Gruppe nur bedingt relevant.

Fazit: Die Politik plant bei diesem Forschungsansatz mit Zahlen, die aufgrund der gewählten Methode für die VNB keine belastbaren Ergebnisse liefern.

Beispiel für Bottom-up: Studie „Dekarbonisierung Wärmesektor“

Die „Bottom-up-Studie zu Pfadoptionen einer effizienten und sozialverträglichen Dekarbonisierung des Wärmesektors“ hat der Nationale Wasserstoffrat der Bundesregierung beauftragt. Sie ist bisher die einzige aktuelle Bottom-up-Studie.

Methodik: Die Studie folgt dem Ansatz der Kommunalen Wärmeplanung (KWP), die bald für alle Kommunen in Deutschland verpflichtend sein wird. Dafür wurden vier unterschiedliche Städte in Deutschland ausgewählt und detailliert analysiert – und zwar jeder Straßenzug, jedes Gebäude und jedes Industrieunternehmen. Für fünf unterschiedliche Szenarien stellten die Forschenden über die verschiedenen Sektoren dieselben Berechnungen an. Annahme war, dass das vorgelagerte Übertragungs-/Fernleitungsnetz die Strom- und H2-Mengen grundsätzlich bereitstellt. Allerdings ist der Verkehr, also die E-Mobilität und der damit verbundene Strombedarf nicht berücksichtigt. Die fünf Szenarien bauen auf verschiedenen Prämissen auf, wie zum Beispiel der Sanierungsrate oder der Höhe der Kosten für Wasserstoff, und modellieren deren Auswirkungen.

Fazit 1: Die Auswirkungen auf das Verteilnetz werden beim Bottom-up-Ansatz für die gewählten Regionen sehr viel genauer berechnet und passen nicht automatisch zu den Ergebnissen der Top-down-Studien. Beispiel: Wenn H2-bedürftige Industrie vor Ort vorhanden ist, ist es sinnvoll, H2 in allen anderen Sektoren vor Ort großflächig einzusetzen. Das kann bei der Top-down-Studie aufgrund der gewählten Methodik nie herauskommen, da die räumliche Auflösung und die Sektorenkopplung im Verteilnetz fehlen.

Fazit 2: Wenn die KWP vom Gesetzgeber gut gemacht wird, dann bietet sie eine Chance für die Thüga. „Dann wird die KWP eine Bottom-up-Studie für die ganze Thüga-Gruppe“, so Christian Friebe von der Stabsstelle Energiepolitik. „Sie wird für Transparenz in der H2-Entwicklung sorgen. Und es ist ein großer Schritt in Richtung spartenübergreifende Planung, die die Bürger und Gemeinden mit einbezieht.“

Aber: „Die Krux ist, dass es bis zu einer flächendeckenden KWP noch einige Jahre dauern wird“, sagt Friebe. „Viele Investitionsentscheidungen müssen unsere Partnerunternehmen jedoch schon viel früher treffen.“ Außerdem werden bei der KWP die Übertragungsnetze nicht mit betrachtet, da es sich um eine lokale, spartenübergreifende Berechnung handelt. „Im Idealfall rechnet man die Zahlen aus der KWP später hoch, damit die übergreifende Planung robuster wird“, so Friebe. „Die Erkenntnisse aus der KWP werden sicherlich in den Netzentwicklungsplan einfließen, den die vier großen Übertragungsnetzbetreiber verantworten und auch in die Planung des H2-Backbones in Deutschland.“

Das Prämissen-Problem

Zusätzlich zum methodischen Unterschied werden verschiedene Eingangsprämissen verwendet. „Dadurch können in der Wahrnehmung der Politik ,blinde Flecken‘ entstehen – beziehungsweise die Politik sieht nur eine Ecke des Lösungsraums“, so Friebe. Beispiel: Die letzten großen Top-down-Systemstudien gehen von vergleichsweise hohen Sanierungsraten zwischen 1,7 und 3,9 Prozent aus. Seit Jahren liegt die Rate jedoch stabil bei rund einem Prozent – und diese Zahl kann nicht beliebig gesteigert werden. „Eine Sanierung macht man in der Regel einmal im Leben eines Gebäudes“, sagt Friebe. „Dazu braucht es nicht nur öffentliche Förderung, sondern auch Finanzmittel und Interesse des Eigentümers an dem Thema, ausreichend Material und qualifizierte Handwerker. Deshalb ist es für die Politik schwierig, dieses eine Prozent zu erhöhen.“ Seit zehn Jahren rechnen viele Studien mit zwei Prozent, die bis heute nicht erreicht wurden. Da man Wärmepumpen vorzugsweise in sanierten Gebäuden einsetzt, zieht die Politik aufgrund der zu hohen angenommenen Sanierungsrate in den allermeisten Studien falsche Schlüsse – wie zum Beispiel, dass eine umfassende Elektrifizierung des Wärmemarktes mit Wärmepumpen funktionieren kann. „In der Bottom-up-Studie hingegen wurde auch ein Szenario mit 1,2 Prozent Sanierungsrate gerechnet, das sehr viel näher an der heutigen Realität liegt“, sagt Friebe. Aus unserer Sicht ist es nun notwendig, auch in Studien mit dem Top-Down-Ansatz Szenarien mit erreichbaren Sanierungsraten zu berechnen.

Wo liegen die Schnittpunkte der beiden Studien?

Die gute Nachricht: „Man kann aus beiden Studienansätzen wesentliche Erkenntnisse gegenüberstellen, um in Summe zu robusten Erkenntnissen zu kommen“, sagt Friebe. Vereinfacht gesagt werden sich beim Strom Investitionen ins Netz und die Nachfrage in etwa verdoppeln. Ein wichtiger Einflussfaktor bei dieser Entwicklung ist aber, ob die Industrie vor Ort auf Wasserstoff oder Strom umrüstet. Beim Gas ist der Lösungsraum derzeit noch breit gefächert. „Entscheidend ist, ob wir es als kommunale Unternehmen in absehbarer Zeit schaffen, H2-Inseln aufzubauen und wirtschaftlich zu betreiben“, sagt Friebe. „Da sich momentan die Politik bei dem Thema H2 wie ein Blatt im Wind dreht, müssen wir uns selbst am Schopf packen und Wasserstoff lokal vorantreiben.“

Und beide Studien und Methoden führen zu einem unstrittigen Ergebnis: Es ist fünf vor zwölf. Die Maßnahmen für die Klimaneutralität wie Stromnetzausbau oder der Hochlauf von Wasserstroff müssen ab jetzt sehr viel schneller umgesetzt werden.

Titelfoto: © Thomas Richter / Unsplash