Ab 2045 dürfen Deutschlands Energieversorger nur noch klimaneutrale Brennstoffe durch ihre Gasnetze leiten. Eine strategische Entscheidung kommt auf Gasnetzbetreiber zu: Leitungen stilllegen oder transformieren?

Es steckt viel Geld im deutschen Boden, sehr viel Geld. „Auf mehr als 270 Milliarden Euro wird der Wiederbeschaffungswert des kompletten Gasleitungs-Netzes taxiert“, berichtet Andreas Hinz aus dem Thüga-Kompetenzcenter Netzstrategie. Über eine Länge von etwa 560.000 Kilometern verzweigt es sich engmaschig quer durch die Republik. Rund 50 Prozent der Haushalte sind angeschlossen. Dazu kommen etwa 1,8 Millionen Betriebe der mittelständischen Industrie und des verarbeitenden Gewerbes.

Zwischen allen Stühlen

Die Zukunft des Gasnetzes ist ungewiss. Fest steht bislang nur: Die Bedeutung von fossilem Gas wird abnehmen. Wärmepumpen nehmen mittlerweile im Einfamilienhaus-Neubau eine dominante Marktstellung ein. Fernwärme dürfte in Gebieten mit hoher Lastdichte wettbewerbsfähig sein. Klimaneutrale Gase wie etwa Wasserstoff braucht es wohl perspektivisch mindestens für die Industrie.

Die politisch gewollte flächendeckende Kommunale Wärmeplanung (KWP) soll mehr Licht ins Dunkel bringen. Jede Kommune in Deutschland soll ein Zielszenario für die klimaneutrale Wärmeversorgung entwickeln. Bis Jahresmitte 2026 haben Großstädte Zeit, kommunale Wärmeplanungen bis hinunter auf die einzelnen Straßenzüge zu erstellen – immer in Abhängigkeit von vor Ort verfügbaren Wärmeerzeugungs- und Energiequellen, Infrastrukturen und Verbrauch. Kleinstädte bekommen für den Wettlauf gegen die Zeit zwei Jahre mehr. Im Kontext von Wärmewende und kommunaler Wärmeplanung fragen sich die Gasnetzbetreiber: Wo macht der Weiterbetrieb der bestehenden Gasnetze Sinn, wo nicht?

Stilllegen…?

In innerstädtischen Gebieten, wo die Heizungswahl künftig wohl öfter auf Fern- oder Nahwärmenetze fallen wird, bietet sich eine Stilllegung nicht genutzter Verteilnetz-Abschnitte an. Doch dabei ist Weitsicht gefragt.

Wie viele Kilometer Gasnetz RhönEnergie Fulda zuletzt stillgelegt hat? Geschäftsführer Dr. Arnt Meyer muss für die Antwort nicht lange nachrechnen: „Keinen einzigen.“ Er erklärt: „Gasnetzbetreiber haben eine Versorgungspflicht gegenüber angeschlossenen Kunden. Für Stilllegungen in größerem Umfang ist außerdem aktuell noch zu viel ungewiss: die Entwicklung alternativer Technologien, die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, die Entscheidung der Kunden.“ Beim Strom gibt es aus Kundensicht keine Wahl. Bei der Wärmeversorgung ist es anders: Die Verfügbarkeit der Anschlüsse und die Voraussetzungen sind nicht überall gleich gegeben. Meyer: „Da gibt es Fernwärme, Nahwärme, Erdgas, Wasserstoff, Solarthermie, Pellets, Wärmepumpen.“

Zunehmende Kundennachfrage

Wärmepumpen zeigen beispielhaft die aktuelle Volatilität. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Spätwinter 2022 hoch gehypt, halbierten sich die Förderanträge schnell: Hatte das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle im ersten Halbjahr 2023 48.804 Förderanträge für Wärmepumpen erhalten, waren es im gleichen Vorjahreszeitraum 97.766 – eventuell auch, weil viele Haushalte zuletzt noch schnell eine neue Öl- oder Gasheizung kauften, obwohl fossile Brennstoffe durch die steigende CO2-Bepreisung perspektivisch teurer werden dürften. Meyer erwartet dennoch, dass sich Wärmepumpen weiter im Markt ausbreiten – insbesondere im Neubau und nach Grundsanierungen. „Wo heute im Gebäudebestand mit Erdgas oder Öl geheizt wird, warten die Kunden aber möglicherweise die Ergebnisse der kommunalen Wärmeplanungen ab“, prognostiziert er. „Die Kundennachfrage nach Fernwärme hat schon zugenommen.“ Aber viele hofften wohl auch darauf, dass am Ende grüner Wasserstoff durch die bestehende Gasleitung fließt und sich dann mit einer 100-Prozent-H2-ready-Gastherme heizen lässt.

Vorerst stillhalten beim Stilllegen

Ob es so kommt, hängt neben der KWP aber maßgeblich von der Verfügbarkeit ausreichender Wasserstoffmengen zu wettbewerbsfähigen Preisen ab. „Und schließlich“, so Meyer, „könnte das Erdgasnetz in ausgewählten Bereichen auch mit Bioerdgas genutzt werden. Die Erzeugung von grundlastfähigem Strom aus Biogasanlagen ist aber für die Energiewende ebenfalls sehr wichtig.“ Bis klarer ist, wo das bestehende Erdgasnetz zukünftig noch gebraucht wird und wo nicht, gilt idealerweise: stillhalten beim Stilllegen. „Eine Gasleitung erst mit Aufwand einzumotten und dann doch wieder betriebsbereit zu machen, das wäre betriebs- wie volkswirtschaftlich keine gute Rechnung“, warnt Meyer.

… Transformieren?

Wo Nah- und Fernwärmenetze weit weg und Gasverteilnetze schon im Boden liegen, bietet sich deren Transformation an. Was dabei aus der Perspektive von Energieversorgern zu beachten ist – und was zu tun ist.

Wer heute mit Erdgas heizt, kann theoretisch mit (fast) derselben Technik und aus demselben Netz mit klimaneutralem Methan oder Wasserstoff versorgt werden. Dass die vorhandenen Gasnetze Energiewende-kompatibel sind, hat die Branche in letzter Zeit mit Pilotprojekten unter Beweis gestellt. „Die Information zur Energiewende-Kompatibilität der Gasnetze aus technischer Sicht reicht allerdings für die Ableitung einer Strategie für das Gasnetz vor Ort nicht aus. Darüber hinaus bedarf es zum einen der Transparenz über lokal sinnvolle klimaneutrale Wärmeversorgungslösungen. Zum anderen bedarf es eines Rechts- und Regulierungsrahmens, der die Gasnetzbetreiber handlungsfähig macht und der Investitionssicherheit bietet“, erklärt Thüga-Netzstratege Andreas Hinz.

Umstellung auf Wasserstoff vorbereiten

Bis mehr Klarheit über den zukünftigen Rechts- und Regulierungsrahmen herrscht, rät die Thüga ihren Partnerunternehmen, die Investitionen in ihre Gasnetze auf sicherheitstechnische und rechtliche Erfordernisse zu begrenzen. Was sich dabei anbietet, ist laut Hinz, „bei zwingend notwendigen Erneuerungen direkt die Voraussetzungen für die Umstellung auf Wasserstoff in den jeweiligen Netzabschnitten zu schaffen“. Darüber hinaus sollten Gasnetzbetreiber einen Gasnetzgebietstransformationsplan (nach dem Gebäudeenergiegesetz §71k Abs. 2) erstellen, um klimaneutrale Lösungen und Vorschläge für die kommunale Wärmeplanung vorzubereiten.

Offen sein für neue Lösungen und mitgestalten

Was RhönEnergie-Geschäftsführer Dr. Arnt Meyer Stadtwerken und Energieversorgern empfiehlt, die noch zwischen den sprichwörtlichen Stühlen stehen? „Die Sache unternehmerisch angehen und mitgestalten! Und gern auch mal an Lösungen denken, die auf den ersten Blick unkonventionell erscheinen.“ Fest steht für ihn: „Ohne Mitwirkung der Energieversorger wird die Kommunale Wärmeplanung vor Ort sehr schwierig. Bei ihnen liegen Fachexpertise, Unternehmertum und der direkte Kundenkontakt.“