Kaum eine Branche verändert sich derzeit so stark wie die Energiewirtschaft: Mit der Energiewende sind neue Berufe entstanden, bestehende wandeln sich. Dennoch droht in absehbarer Zeit ein Mangel an Fachkräften. Wie können wir gegensteuern? Thüga hat Kerstin Andreae, Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des BDEW, dazu befragt.

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Frau Andreae, Fachkräftemangel ist derzeit in aller Munde. Weshalb spitzt sich die Situation so zu?
Wie in vielen Branchen mangelt es auch der Energiewirtschaft in zahlreichen Bereichen an Fachkräften. Es gibt einen hohen und stetig steigenden Bedarf an qualifizierten Kräften, insbesondere auch in den technischen Berufen und dem Baugewerbe. Allein bis 2030 werden zehntausende Beschäftigte in der Energiewirtschaft in Rente gehen, davon sehr viele im technischen Bereich. Gleichzeitig erfordert die Energiewende neue Kompetenzen: Großen Bedarf gibt es für Energie-, Klima- oder Umweltingenieure und -ingenieurinnen. Auch nach Fachleuten, die die künftige Energieversorgung durch intelligente Netze steuern werden, ist die Nachfrage sehr groß. Energieunternehmen benötigen zudem zusätzliche IT-Fachkräfte, damit beispielsweise die Kommunikation zwischen der Netzleitstelle und den angeschlossenen Haushalten intelligent wird. Immer wichtiger wird auch die Erforschung von Speichermöglichkeiten und die Entwicklung von alternativen Mobilitätskonzepten.

Das Bundeskabinett hat eine Fachkräftestrategie beschlossen …
Ein wichtiges Signal, dass die Politik das Problem erkannt hat und die betroffenen Branchen unterstützen möchte. Ziel der Fachkräftestrategie ist es, die Anstrengungen der Unternehmen zu unterstützen. Es wird betont, dass die Fachkräftesicherung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Sie kann nur gelingen, wenn alle Akteure des Arbeitsmarkts – Unternehmen und Betriebe, Beschäftigte, Länder und Kommunen, Sozialpartner, Kammern, die Bundesagentur für Arbeit, Bildungs- und Weiterbildungsträger sowie die Bundesregierung – ihren Beitrag dazu leisten. Unter dem Dach der Fachkräftestrategie sollen die Maßnahmen gebündelt und weiterentwickelt werden.

Was muss darüber hinaus initiiert werden – der BDEW spricht davon, dass die Offensive in der Grundschule beginnen muss?
Wir müssen schon bei den Kleinsten anfangen und ihr Interesse an Technik und Naturwissenschaft wecken. Hier sind Eltern, aber vor allem auch Lehrerinnen und Lehrer in der Pflicht. Über das Portal „Energie macht Schule“ bietet der BDEW Lehrkräften Hilfestellungen mit gut aufbereiteten, altersgerechten Unterrichtsmaterialien zum Thema Energie, die aktuelle Zahlen liefern und transparente Einblicke in die Entwicklungen der Branche geben. Ein Problem an den Schulen ist auch der Lehrermangel, insbesondere bei naturwissenschaftlichen Fächern. Das ist fatal.

Der Fachkräftemangel betrifft sowohl Ingenieursberufe, die IT-Branche als auch das Handwerk. Muss es für die unterschiedlichen Bereiche verschiedene Strategien geben?
Auf jeden Fall. Bei den Ingenieursberufen müssen die jungen Leute schon vor Studienbeginn angesprochen werden. Bei den IT-lern müssen wir Branchenwechslern interessante Angebote machen und das Handwerk muss insgesamt wieder aufgewertet werden. Die Struktur der Arbeitswelt ist durch den Trend zur Akademisierung aus den Fugen geraten. Aber das ist ein sehr großes Thema, das nicht nur unsere Branche betrifft.

Traditionell ist der Frauenanteil in der Energiebranche sehr niedrig. Wie lässt sich das ändern?
Während Frauen in den MINT-Fächern in der Schule oft sehr gute Ergebnisse bringen, ist ihr Anteil in naturwissenschaftlichen und technischen Studiengängen leider noch immer unterdurchschnittlich. Deshalb müssen wir in den Schulen stärker für MINT-Studiengänge und technische Ausbildungen werben. Um wirklich etwas zu verändern, müssen wir aber auch hier viel früher ansetzen: Noch immer ist es so, dass Mädchen eher eine Puppe zu Weihnachten bekommen als einen Experimentierkasten. Das manifestiert schon bei den Kindern das Klischee: Technik und Handwerk sind etwas für Jungs! Das muss sich ändern.

Sind die aktuellen Herausforderungen in der Energiebranche eine Chance für junge Menschen, die die Energiewende mitgestalten wollen? Wie kann dieser Nachwuchs gewonnen werden?
Unsere Branche ist wie kaum eine in Bewegung und außerdem durch die Energiewende vielfältiger und bunter geworden – und mit ihr ihre Berufsbilder und Tätigkeitsfelder. Neue Berufe wie Powertrader, Regulierungsmanagerin oder Servicetechniker Windenergie sind entstanden. Gleichzeitig haben sich die Tätigkeiten in klassischen Berufen wie Elektrotechnikerin oder der Elektroingenieur grundlegend gewandelt und stehen auch künftig in einem Wandel, was sie besonders spannend und abwechslungsreich macht. Viele dieser Berufe und Ausbildungswege sind jedoch zu wenig bekannt. Deshalb müssen wir alles dafür tun, junge Menschen auf die spannenden und vielfältigen Berufsmöglichkeiten in der Energiewirtschaft aufmerksam zu machen.

Welche Maßnahmen sind schnell umsetzbar?
Ganz schnell geht im Bereich Bildung leider nichts. Selbst wenn wir nun zeitnah mehr Schülerinnen und Schüler für ein Studium oder eine Ausbildung in unserem Feld begeistern können – und das müssen wir auf jeden Fall: Vier bis fünf Jahre dauert es dann doch noch, bis sie einsatzfähig sind. Auch bei einer verstärkten Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften gilt es, eine Sprachlernphase einzuplanen. Wichtig scheint mir, dass wir uns an die eigene Nase fassen und unsere jeweilige Unternehmenskultur auf den Prüfstand stellen. Alle Bewerber und Bewerberinnen werden gerne zu Unternehmen kommen, die moderne Arbeitsbedingungen bieten.

Wie lässt sich die Zuwanderung von Fachkräften aus anderen Ländern erleichtern?
Die Modernisierung der Einwanderung ist eine große politische Aufgabe, die nicht nur, aber auch die Energiewirtschaft betrifft. Hier sollten die Unternehmen ihre Anforderungen formulieren und in die politische Diskussion einbringen. Insgesamt bin ich sehr dafür, all diese Fragen offen zu diskutieren, sie dadurch weiterzuentwickeln und Standards zu verbessern.

Was passiert, wenn alle Bemühungen nicht den gewünschten Erfolg bringen?
Dies wäre ein ernstes Problem für die Energiewende. Denn egal ob für den Bau von Windrädern, die energetische Sanierung von Gebäuden oder der Digitalisierung der Netze: Letztlich sind es Menschen, Fachkräfte, die die Energiewende umsetzen. Hier sind verstärkte politische Anstrengungen notwendig. Wir sehen schon heute, dass Menschen monatelang auf den Einbau einer Wärmepumpe warten müssen – nicht nur, weil die Geräte fehlen, sondern weil es keine Handwerker gibt, die sie einbauen können. Ähnliches sehen wir auch in anderen Bereichen. Die Energiewende darf nicht am Fachkräftemangel scheitern!