Wie sieht das digitale Energieunternehmen aus? Und welche
Aufgaben müssen auf dem Weg dahin gelöst werden?
Die Energieversorgung Mittelrhein in Koblenz und die Thüga Energienetze in Singen geben Einblick in ihre Erfahrungen.

„Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein. Wir haben deshalb ein digitales Zielbild erarbeitet, in dem wir für die Bereiche Kunde, Produkt, Interaktionspunkte, Support und Organisation definieren, was Digitalisierung bedeutet.“ Christian Schröder legt ein Blatt auf den Schreibtisch. Das digitale Zielbild stammt schon aus dem Jahr 2016. „Und ist immer noch topaktuell“, sagt der Bereichsleiter Marktmanagement und Innovation bei der Energieversorgung Mittelrhein (evm) in Koblenz. „Aus diesem Zielbild leiten wir operative Maßnahmen ab.“ Die das gesamte Unternehmen betreffen:

– Organisation: Wie verankern wir Innovation und Digitalisierung wirkungsvoll in unserer Organisation?

– Prozesse: Wie schaffen wir eine solide Basis, um die Ambition des digitalen Zielbilds auch umzusetzen?

– Veränderungskultur: Wie befähigen wir Organisation und Mitarbeiter, stärker an digitalen Innovationen zu partizipieren?

Kreative Arbeitsmethodik

„Klingt komplex, ist aber ganz einfach“, erklärt Schröder. „In Sachen Digitalisierung müssen erstens die generellen Rahmendaten stimmen. Agilität, Organisation und digitale Denkweise. Aus meiner Sicht ein grundlegender Punkt, ohne den jede Bemühung zur Digitalisierung verpufft. Also fördern wir bei der evm Agilität, Geschwindigkeit und das Übernehmen von Verantwortung in den marktorientierten Bereichen so stark wie möglich.“

Mitarbeiter durchliefen Grundlagenschulungen zur Agilität und Zusatzausbildungen in kreativen Arbeitsmethoden wie Design Thinking oder Kanban. „Wichtig ist“, betont Schröder, „dass wir hier zuerst die Mitarbeiter fit gemacht haben. Denn sie kennen die Prozesse ja am besten. Erst im zweiten Schritt wird dieses Schulungskonzept nun auf die evm-Führungskräfte ausgerollt.“

Digitalisierung bedeutet auch: Immer öfter arbeiten bei der evm Projektgruppen zusammen, zu denen Mitarbeiter verschiedener Unternehmensbereiche gehören. Prozessorientiert statt „in der Linie“. Schröder wendet diese Methodik im Bereich Marktmanagement und Innovation durchgängig an: „Wir haben uns von der klassischen aufgabenbezogenen Orga – ich mache Media, du entwickelst Produkte – dahingehend verändert, dass jetzt Projektmanager bestimmte Themen treiben und sich dazu wechselnde Teams mit den benötigten Kompetenzen zusammenstellen.“ Im ganzen Unternehmen funktioniert das noch nicht, gesteht Schröder. „Aber wenn es sinnvoll ist, wollen wir genau dahin kommen.“

Gesunder Pragmatismus

Die generelle Strategie muss in digitale Rahmendaten übersetzt werden, in eine digitale Agenda. „Uns geht es dabei nicht um eine vollständige Digitalisierung“, so Schröder. „Wir wollen einen pragmatischen, zur Marke und zu unseren Kunden passenden Weg finden, um den richtigen Digitalisierungsgrad zu erreichen.“ Hierfür braucht es ein „Gesicht der Digitalisierung“ – nicht unbedingt einen Digital Officer auf C-Level-Ebene, sondern jemanden, der nichts anderes macht als Digitalisierung. Plus „gescheite digitale Prozesse“. Schröder erinnert an den Spruch des früheren Telefónica-CEOs Thorsten Dirks: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“

Die Liste der digitalen Projekte der evm ist inzwischen lang – und wächst ständig: Ein LoRaWAN-Geschäftsmodell ist implementiert, Smart City-Projekte laufen in Mayen, es gibt Chatbots im Kundenservice und im Netz, ein Social Intranet, eine intelligente Webseite, digitalen Posteingang und digitalen Gashausanschlussprozess, die evm-App …

Struktur reinbringen

„Digitalisierung wird nie wieder aufhören“, sagt Markus Kittl, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Thüga Energienetze (THEN). „Alles, was digitalisierbar ist, wird auch digitalisiert werden. Wichtig ist es, hier eine gute Struktur reinzubringen und alle Mitarbeiter, Führungskräfte und externen Partner einzubeziehen. Zusammen haben wir alle Ideen in einen Topf geschmissen und dann nach Prioritäten auf einer Zeitachse geordnet. Daraus haben wir für zwei bis drei Jahre im Voraus unser digitales Zielbild abgeleitet.“

Die Thüga Energienetze ist ein Verteilnetzbetreiber mit sechs Standorten in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Teilen Bayerns. Da läuft ohne ortsübergreifendes Arbeiten gar nichts. „Weg vom Papier, weg von physischer Anwesenheit – so könnte man unser Motto beschreiben“, erklärt Kittl. „Bei einem Netzbetreiber steht die Optimierung der Prozesse durch digitale Lösungen im Vordergrund. So muss zum Beispiel nicht rund um die Uhr jemand am Eingang sitzen. Der Besucher kann künftig im Empfangsbereich elektronisch auswählen, welchen Fach-Ansprechpartner er braucht, und der entsprechende Mitarbeiter kommt dann auf den Besucher zu.“

Die Monteure profitieren bereits heute schon von der Digitalisierung: Ihre Auftragssteuerung läuft übers Tablet, das Abarbeiten können sie sich weitestgehend selbst einteilen. Fahrten in die Zentrale zum Abstimmen entfallen. Und sie gewinnen mehr persönliche Freiheit – Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie. „Unsere Monteure betreten auch Neuland“, so Kittl. „Zum Beispiel beim Fehlerbeheben in unseren rund 200 Schaltschränken für Datenübertragung.“ Bisher konnten hier nur drei Spezialisten Hand anlegen. Das kann dann schon mal dauern, wenn es Störungen an weit entfernten Orten gibt. Mittels Handy-App und künftig auch mit Augmented-Reality-Brillen können zusätzlich die Strom- und Gasmonteure Reparaturen an diesen Schaltschränken durchführen. Die Brille erkennt den Fehler und leitet den Monteur an. Bei Bedarf verfolgt ein Experte das Ganze online und gibt dem Kollegen Tipps.

In Kooperation mit dem Unternehmen Modellfabrik Bodensee und zehn Partnern aus der Thüga-Gruppe laufen Projekte für verschiedene Einsatzfälle von Datenbrillen. „Die Ergebnisse können dann alle in der Thüga-Gruppe nutzen“, sagt Kittl.

Das gesamte Unternehmen fit für die Zukunft machen will das Projekt THEN 2023. Es umfaßt alle Handlungsfelder zur strategischen Ausrichtung, Organisation und Verwaltung, Erlössteigerung, Kostenoptimierung und Digitalisierung. „Allerdings haben wir festgestellt, dass in allen Teilprojekten die Veränderungen digital geprägt sind, etwa in der Organisation und Verwaltung mit Office 365 oder Robotic Prozess Automation. Mit RPA werden mittlerweile immer mehr Aufgaben erledigt. Das Werkzeug muss aber immer zum Prozess passen“, erklärt Kittl. „Sonst schöpfen wir das Potenzial der Digitalisierung nicht aus.“