Die deutsche Industrie steht vor der Entscheidung, wie sie ihre Energiebedarfe dekarbonisiert. Mit einem neuen Berechnungstool der Thüga lässt sich die Wirtschaftlichkeit der unterschiedlichen technologischen Pfade individuell für einzelne Geschäftskunden berechnen. 

Mit Unterstützung der Thüga können sich Stadtwerke und Netzbetreiber als Partner für die Dekarbonisierung positionieren. „Jetzt stellen wir ein neues Tool bereit, das die Wirtschaftlichkeit unterschiedlicher Transformationspfade analysiert und wesentliche Preisentwicklungs-Szenarien berücksichtigt“, sagt Philipp Kampmann, bei Thüga zuständig für den Aufbau von H2-Ökosystemen.

In energieintensiven Branchen wie Glas, Stahl oder Chemie ist der Transformationsbedarf besonders groß. Als Innovationsmanager bei der Thüga weiß Kampmann, dass Industrieunternehmen ihren gesamten Prozess neu denken müssen, um klimaneutral zu werden. „Es gibt mehrere technologische Optionen, jede hat ihre eigenen Herausforderungen. Insgesamt geht es um Wirtschaftlichkeit und Investitionssicherheit“, so Kampmann. Das Spektrum erstreckt sich von der umfassenden Elektrifizierung unter Nutzung erneuerbarer Energiequellen über den Umstieg auf Wasserstoff bis theoretisch zum Carbon Capture Storage (CCS), der Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund. 

H2 konkurrenzfähig 

Eine derart grundlegende Weichenstellung muss sorgfältig abgewogen und vorbereitet werden. Die Wirtschaftlichkeit der jeweiligen Versorgungsoptionen ist dabei ein wesentlicher Aspekt für die Investitionsentscheidungen. Hier setzt das Tool der Thüga an, das die Wirtschaftlichkeit unterschiedlicher technologischer Pfade auf Basis realer CAPEX (Investitionsausgaben für längerfristige Anlagegüter) und OPEX (Betriebskosten) sowie zukünftiger Preisentwicklungs-Szenarien gegenüberstellt. Um eine möglichst große Nähe zur Praxis sicherzustellen, wurde das Tool mit dem Glashersteller Verallia verprobt und eine erste Fallstudie erstellt. Dabei wurde unter anderem für jeden Transformationspfad genau ermittelt: Welche Leistungs- und Verbrauchsdaten, welche Eingangs- und Ausgangs-Parameter hat der Glashersteller? Welche Investitionen wären notwendig für welche Technologie? Und welche Kosten sind bei welchen Preis-Szenarien für Strom, Erdgas, H2 und CO2 zu erwarten?

Das Tool analysiert die Total Cost of Ownership (TCO) – die Gesamtkosten für jede Investitionsentscheidung über 20 Jahre. Gesucht war eine belastbare Antwort auf die Frage, welche Technologie sich langfristig für Verallia am meisten rechnet. Das Ergebnis: Im Fall eines Glasherstellers ist H2 konkurrenzfähig zur Elektrifizierung, weil er den Großteil seiner Infrastruktur weiter nutzen kann und deutlich geringere CAPEX notwendig sind. Beim Elektrifizierungspfad wurde deutlich: Elektrifizierung ist in diesem Fall prozessbedingt nur zu 80 Prozent möglich, ein Brenngas wird auch in Zukunft benötigt. 

Wichtiger Schulterschluss 

Die Verallia Deutschland AG hat sieben Standorte, für die Wirtschaftlichkeitsanalyse lag der Standort Bad Wurzach im Fokus. Matthias Mönnighoff, Head of Energy & Energy Transition bei Verallia, macht deutlich, was die Wirtschaftlichkeitsberechnung der Thüga für die Verallia bedeutet: „Wir haben uns die Auswertung genau angesehen und analysiert. Damit Wasserstoff in großem Maßstab wirtschaftlich tragfähig wird, sind neben technologischen Innovationen auch umfassende Untersuchungen und gezielte Fördermaßnahmen erforderlich. Klar ist, dass nur mit einer langfristig planbaren Preisentwicklung Wasserstoff zu einem tragenden Element der Energiewende in der Glasindustrie werden kann.“ Entscheidend ist der frühzeitige Schulterschluss zwischen Energieversorger oder Netzbetreiber und Industrieunternehmen. 

Konkreter Austausch 

Die Thüga Energienetze GmbH (THEN) ist eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der Thüga und verantwortlich für den Netzbetrieb von rund 150 Kommunen in Süddeutschland. Auch die Verallia ist ihr Kunde. Die Gespräche über die Transformation der Gasnetze und Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff nehmen derzeit Fahrt auf. „Wir freuen uns, dass die Wirtschaftlichkeitsberechnung vorangeschritten ist, und sind jetzt im konkreten Austausch über die technischen Rahmenbedingungen, die für eine Dekarbonisierung bei Verallia wichtig sind. Dazu gehören die betriebliche Wasserstoff-Bedarfsermittlung, die Klärung der Verfügbarkeit von Wasserstoff in Bad Wurzach sowie eine mögliche Anbindung an das Wasserstoff-Kernnetz. Schon bevor Wasserstoff verfügbar sein wird, kümmern wir uns als zuständiger Verteilnetzbetreiber um eine dezentrale Versorgung als Übergangslösung. Mit der Verallia werden wir einen Plan erarbeiten, wie und wann die Umstellung auf Wasserstoff erfolgen kann“, so Alexander Flat-Deitmann, zuständig für die Netzentwicklung Gas bei THEN. 

Hilfreiche Grundlage 

Das Berechnungsmodell für Verallia bildet die Grundlage für die Analyse weiterer Unternehmen aus anderen energieintensiven Branchen. Diese wurden bereits im Thüga-Projekt „HyPotentials“ zusammen mit dem Fraunhofer IEE ermittelt. Gerade am Beispiel Wasserstoff-Infrastruktur wird klar, wie viel Vorlauf benötigt wird. 20 Jahre bis zur Klimaneutralität sind in der Energiebranche ein verhältnismäßig kleines Zeitfenster, insbesondere wenn potenzielle Wasserstoffabnehmer weit entfernt vom Kernnetz mit Wasserstoff versorgt werden müssen. Damit dies bedarfs- und fristgerecht sowie kosteneffizient geschehen kann, ist eine sehr enge Abstimmung mit der Abnehmerseite nötig. Die Thüga unterstützt ihre Partnerunternehmen und verfolgt diverse Ansätze unter dem Leitsatz „Wir machen Stadtwerke stark!“ – von der Identifizierung potenzieller Abnehmer wie im Projekt „HyPotentials“ über die initiale Transformationsberatung wie die hier vorgestellte Wirtschaftlichkeitsberechnung bis hin zu gemeinsamen Informationsveranstaltungen für Geschäftskunden. Diese finden derzeit unter dem Namen „(E)mission NULL“ mit ausgewählten Pilot-Partnerunternehmen und regionalen IHKs statt.